Potosí – Sucre – La Paz: Bolivien in 3 Städten

Potosí – Sucre – La Paz: Bolivien in 3 Städten

Tief einatmen. Wir sind in der höchsten Stadt der Welt: Potosí, 4200m über dem Meeresspiegel, die Luft ist dünn. Nach den 15 Stufen aus dem Busterminal heraus, atmen wir so schwer wie nach fünf Runden um den Sportplatz. Dafür war die kurze Fahrt hierher sehr entspannt und ruhig und wieder können wir das schlechte Image bolivianischer Busse nicht bestätigen. Okay: Der Fahrer war ca. 15, sah aus wie 12 und war in den Pausen mit Eis essen und Wasserschlachten mit den Kollegen beschäftigt, aber die Serpentinen ist er routiniert gefahren. Wir sind trotzdem ein bisschen froh, als wir ankommen.

Vom Berg der Männer frisst

Potosí war einst die reichste Stadt in ganz Südamerika, heute ist sie verarmt. Über ihr thront der Cerro Rico („Der reiche Berg“), der im 16. Jahrhundert mit seinen scheinbar unerschöpflichen Silbervorkommen das ganze spanische Kolonialreich finanzierte. Heute gibt es kaum noch Silber, aber die Minen sind noch in Betrieb. Etwa 10.000 Männer und 1.000 Kinder arbeiten dort und bauen hauptsächlich Blei, Zink und Zinn ab. Die Bedingungen haben sich seit 1500 kaum verändert. Es gibt keine Sicherheitsmaßnahmen und die Mineros graben sich mit Dynamit immer weiter in den Berg und hoffen auf eine letzte Silberader. Giftige Dämpfe, Unfälle und die harte Arbeit lassen viele von ihnen nicht älter als 50 Jahre alt werden. Der Cerro Rico hat noch einen anderen Namen: „Der Berg, der Männer frisst“. Nicht von ungefähr: Bis heute sind etwa acht Millionen Menschen im Berg gestorben. Und nicht wenige Bewohner Potosís meinen, dass es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis ein großes Unglück passiert und die Stollen endgültig kollabieren.

Als Tourist kann man die Minen besichtigen. Ehemalige Mineros führen einen tief in den Berg, wo man den Männern und Kindern bei der Arbeit zusehen kann. Dafür werden Gastgeschenke erwartet, die man auf dem Markt kaufen kann: Dynamit, Coca und 96-Prozentiger Alkohol. Diese opfern die Arbeiter dann dem Tío, einer Art Teufelsfigur, der im Berg wohnt und für Erfolg sowie Zerstörung zuständig ist. Tatsächlich kommen die meisten Touristen nur wegen der Minen hierher. Auf uns wirkt das ganze so tragisch und bizarr, dass wir uns schnell entscheiden, keine Tour in die Minen zu machen. Die Vorstellung, den Männern bei ihrem Elend zuzusehen, fühlt sich falsch an. Klar: Man sollte das ganze nicht ignorieren, aber wir glauben nicht, dass die Mineros von unserem Besuch profitieren. Im Gegenteil: Eine Touristenattraktion aus einer Tragödie zu machen, verschlimmert die Situation meiner Meinung nur noch. Es ist ein schmaler Grad zwischen Voyeurismus und Aufmerksamkeit. Wir entscheiden, uns aus der Ferne von der Situation zu überzeugen. An dieser Stelle empfehlen wir die hervorragende Dokumentation The Devil’s Miner und diese Foto-Reportage von Tim Hussin.

Für uns hat die Stadt weit mehr zu bieten. Allein die Taxifahrt vom Stadtrand ins Zentrum ist eine Sensation. (Taxis erkennt man hier übrigens an zwei Merkmalen: 1. Sie sind mit allerlei Antennen, Spoilern und Rally-Aufklebern dekoriert. 2. Ein kleines „Taxi“ Schild versteckt sich irgendwo hinter der Frontscheibe – manchmal). Dafür kostet die Fahrt nur 10 Bolivianos (nicht viel mehr als 1€). Die Grenzstadt Villazon war ja schon lebhaft und aufregend, hier potenziert sich alles. Wieder wird gehandelt, geschrien, gehupt, gesungen. Qualmende Minibusse und uralte Frauen mit schwerem Gepäck klettern die steilen Straßen hinauf. Ich schaue aus dem Fenster und am Straßenrand wird eine Kuh an den Hörnern aus einem LKW bugsiert. Nur ist da kein Kuh-Körper mehr dran. Der blutige Kopf landet im hohen Bogen in einem Eimer. Das hier ist wie im Film.

Wir haben das Glück, die Vorbereitungen für Allerheiligen, einen der höchsten Feiertage miterleben zu dürfen. Es gibt noch mehr Marktstände als sonst und überall werden Blumen und bunter Süßkram verkauft. Jeder deckt sich gut damit ein, um es am Sonntag zum Friedhof zu bringen. Wir schlendern durch die steilen und engen Straßen, immer darauf bedacht nicht von den Bussen überfahren zu werden oder durch Sauerstoffmangel zu kollabieren. Mittags gibt es die weltbesten Salteñas (gefüllte Teigtaschen) im Malpartida (das M im Logo hat man sich bei einer großen Fastfoodkette geliehen) und abends eine Art Burger von einem winzigen Straßenstand. Für solche Delikatessen bezahlt man hier übrigens meist nicht mehr als umgerechnet 1-2€. Noch vorgestern in Uyuni durfte ich zum ersten Mal in den Genuss eines 24-Stündigen, magen-bezogenen Zwischenfalls kommen, sodass die Fettgebäck-Diät vielleicht nicht die beste Idee ist, die ich je hatte. Aber das war’s wert. Wir sind Fans dieser Stadt, denn alles ist so anders und aufregend, dass wir uns nicht daran satt sehen können. Nur den Feiertag selbst verbringen wir im Hostel um uns auszuruhen, denn die Stadt ist wie leergefegt. Alle sind zuhause bei Mutti und essen. Zum Glück treffen wir abends mal wieder unsere Tourkollegen Lennart und Jolanda und trinken Bierchen in einer urigen Kneipe und tauschen uns über unsere Erlebnisse aus.

Sucre: Oase in Bolivien

Nach den aufregenden Tagen in Potosí fahren wir weiter nach Sucre. Die hübsche Kolonialstadt ist ehemalige Hauptstadt, heute muss sie sich diese Rolle mit La Paz teilen. Die Bewohner sind darauf nicht gut zu sprechen – Sucre ist und bleibt einzige Hauptstadt. Für uns gibt es hier zum ersten Mal seit längerer Zeit wieder Kaffee, Luft, Supermärkte und eine erkennbare Struktur. Man könnte meinen, man ist in einer europäischen Stadt und wir nutzen die vier Tage in Sucre, um uns zu entspannen. Das hervorragende Hostel Dolce Vita ist der perfekte Ort dafür. Hinter uns liegen derart intensive Eindrücke, das wir das Gefühl haben, mal ein paar Tage abschalten zu müssen. Wir lernen, dass man nicht jeden Tag Vollgas geben kann, sonst läuft man Gefahr, reisemüde zu werden. Auf der gemütlichen, sonnigen Hostel-Terasse faulenzen wir herum und machen ab und zu kleine Ausflüge in die pittoreske Stadt und die riesige Markthalle, wo sich exotische Früchte und Gewürze und diverses Fleisch türmen. Wir trinken ca. 100 frische Fruchtshakes, die man für sehr kleines Geld kaufen kann und lernen im Gespräch mit einer Marktfrau merkwürdige aber leckere Früchte kennen, da sie uns gerne alles zeigen und probieren lassen möchte.

Als nächstes wollen wir nach La Paz. Über die Stadt hört man soviel gutes wie schlechtes. Turbulent, schnell, groß und laut soll sie sein. Teilweise gefährlich aber voller schöner Überraschungen. Wir sind extrem gespannt. Statt einer 19-Stündigen Busfahrt über Schotterpisten entscheiden wir uns, von Sucre nach La Paz zu fliegen. Das dauert nämlich nur 45 Minuten und spart Zeit und Nerven. Im Landeanflug können wir schon einen Blick auf die scheinbar endlose, am Hang gelegene Stadt erhaschen. Es sieht überwältigend aus. Mit dem Taxi fahren wir runter ins Zentrum, checken in unser Hostel ein und laufen sofort los, um die Stadt zu erkunden. Ein paar Straßen weiter beginnt der Straßenmarkt, der sich über mehr als 40 Blocks erstreckt und wo die Cholitas tagtäglich alles verkaufen, was man braucht. Es ist als hätte man einen riesigen Supermarkt auf die Straße verlagert, es gibt regelrechte Abteilungen: Obst, Gemüse, Kosmetik, Klamotten, Technik, Lampen, etc. An einem Stand finden wir ein Sortiment an Gummidichtungen vor, das jeden deutschen Baumarkt in den Schatten stellt. Wir laufen ca. zwei Stunden und haben immer noch nicht das Ende erreicht. Es ist unvorstellbar und grandios. Unser Ausflug führt uns auch auf den sogenannten Hexenmarkt, wo neben Kräutern und Elixiren auch getrocknete Lama-Föten verkauft werden, die man als Glücksbringer im Fundament neuer Häuser vergräbt. La Paz, du bist verrückt.

Am nächsten Tag machen wir wieder einmal eine Free Walking Tour und werden wie schon in Buenos Aires und Valparaiso von stolzen Paceños durch die Stadt geführt und lernen Hintergründe der Kultur und Politik des Landes kennen. Fun fact: Viele der Cholitas, die sieben Tage pro Woche, zehn Stunden am Tag auf dem Markt arbeiten, sind alles andere als arm. Im Gegenteil: Einige sind reich, Millionäre sogar. Aber Faulheit ist in dieser Kultur eine Todsünde und so arbeiten sie trotzdem hart für ihre Familien. Außerdem lernen wir das Mysterium kennen, das das San Pedro Gefängnis ist. Es steht etwa 200m von unserem Hostel entfernt, früher war das der Stadtrand, heute das Zentrum. Im Gefängnis gibt es kaum Wachen, die Gefangenen (Drogendealer, Mörder, Diebe) verwalten sich komplett selbst. Es gibt sieben Bezirke, die demokratisch gewählte Anführer – selbst Insassen – haben. Diese kümmern sich darum, dass alles fein gestrichen ist und dass sich alle an die Regeln halten. Und sie sorgen dafür, dass man einen kleinen Unfall hat, wenn man sich daneben benimmt. Die Insassen haben Berufe innerhalb des Gefängnisses. Manche verkaufen Obst, andere haben ein Restaurant. Und sie bezahlen Miete für ihre Zellen. Die Top-Verdiener bewohnen demnach regelrechte Suiten mit Pool und Blick über die Stadt. Die Familien der Insassen können frei ein- und ausgehen, wohnen teilweise mit im Komplex und bringen ab und zu Obst und Kokain hinein. Bis 2010 konnten Touristen sogar Ausflüge in das Gefängnis machen, die natürlich auch von Insassen angeboten wurden. Als die Regierung aber rausfand, dass viele Besucher ein bisschen Koks (das dort besonders rein ist) als Souvenir mitnahmen, wurden die Touren verboten. Unter der Hand kann man immernoch eingeschleust werden, aber uns wird stark davon abgeraten. Die Warscheinlichkeit, dass man im Gefängnis ausgeraubt wird oder einfach verschwindet, ist sehr hoch. Neugierig blicken wir zum Eingangstor. Oh du verbotener und feiner Ort, wie gerne würden wir dich sehen. Aber auf der anderen Seite würden wir gerne noch etwas weiterreisen.

Als weiteres Highlight wartet am Sonntag auf uns: Der Markt in El Alto, auf dem Berg gelegene Nachbarstadt. Zweimal pro Woche findet dieser statt. Hier soll man alles kaufen können, was man sich vorstellen kann und in seiner Dimension soll er sogar den Straßenmarkt in La Paz klein aussehen lassen. Gespannt steigen wir die Seilbahn und fahren über die Dächer der Stadt nach El Alto. Oben angekommen und nach ein paar Schritten stehen wir mitten im Gewusel. Und tatsächlich: Hier gibt es alles. Alles. Hier eine kleine Auswahl: Komplette Autos in Einzelteilen, MP3s (?), drei Zwiebeln, Schuhe (klein), Pfannkuchen-Bällchen, Reisverschlüsse im Kilo, Gummi-Dichtungen, Gewehre, Handys mit anderen Zeitzonen, alle Batterien, etc etc etc.  Wer ein Haus bauen möchte, findet hier alle benötigten Utensilien und Materialien. Markt auf Crack. Trödel-Paradies. Wahnsinn. Übrigens, im Vorfeld wird man gewarnt: Lieber Handy und Kamera im Hostel lassen, sonst sieht man sie später an einem der Marktstände wieder. Diebe und Räuber sollen sich hier tummeln. Liest man den Lonely Planet, könnte man meinen, man wird ausgeraubt, sobald man die Stadt betritt. Gleiches gilt für La Paz. Unsere Erfahrung (die für alle bisher bereisten Orte gilt): Ist man nicht total betrunken, dumm oder naiv, passiert erstmal nix. Die Menschen sind hilfsbereit und wenn man nicht gerade die 5000€-Kamera durch die Gegend schwingt, muss man sich wenig Sorgen um seine Wertsachen machen. Aber man erzählt sich gerne die Horror-Geschichten von Entführungen und Raubüberfällen. In der Realität gilt wie immer: Vorsicht – aber keine Paranoia. Alles bleibt gut.

Mit diesen fantastischen Eindrücken und einem verliebten Blick auf dieses verrückte Land fahren wir schweren Herzens Richtung Grenze am Titicaca-See. Hier werden wir ein paar Tage Seeluft schnuppern bevor wir uns Richtung Peru aufmachen.

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